Spamonymous
KURZGESCHICHTE - Was, wenn die Nachrichten im Spam Realität wären? Oder sind sie es nicht längst?

Foto @officialstation
»Willkommen zu dem nun schon dritten Treffen dieses kleinen Kreises. Ich freue mich sehr bekannte Gesichter begrüßen zu dürfen, sowie einige Neuzugänge.«, läutet Karateandrea82 ein. Keiner wusste so recht, warum sie immer das Wort ergriff, da es bei den anonymen Spammer Treffen keine Sitzungsleitung gab. Sie tat es einfach. Und der Rest lies sie. Es herrschten demokratische Verhältnisse und die Stimmung war okay bis betroffen. Lange nicht so betroffen, wie beim ersten Treffen. Die Veteran:innen nannten es seitdem das Treffen 0.1. Der Meetinglink der anonymen Spampfänger:innen, wie sie sich nannten, sollte via Mail übermittelt werden, doch leider kam die Mail mit dem Betreff »Super anonymes Spammertreffen in deiner Nähe« nie an. Es hat niemanden gewundert, aber eben schon betroffen. Kann man sich vorstellen, wie den sich immer wiederholenden Einzug neuer rechter Parteien in deutsche Landtage. Einfach kein guter Plot und das Gegenteil eines Twists.
Man hätte meinen können, dass gerade dieser lose Zusammenschluss aus Fremden regelmäßig alle Postfächer checken würden, aber sie hatten wohl alle bereits mit dem 1-Punkt-Plan begonnen. Der Punkt besagt: Wenn das Spamfach ein Gesellschaftsspiel wäre, dann wäre es …? Na? Genau. Tabu. Und jetzt raus da.
Der Link folgte schließlich pünktlich zur zweiten ersten Sitzung auf dem verwahrlosten Twitter Account von Donald Trump. Nachdem dieser erst gesperrt und ein Jahr später wieder entsperrt worden war, hatte Donald bereits ein florierendes OnlyFans Business aufgebaut – er war unter den top 0,92% der Content Creator – und überlies seinen Twitteraccount den Menschen, die früher Annoncen in Zeitungen schalteten. Absolut jeder durfte rein und den abwegigsten Nonsens teilen. Viele der früheren Follower:innen bemerkten lange nicht, dass es nicht mehr therealdonaldtrump war, der dort den Feed düngte. Jedenfalls fand auch der Meetinglink dieser Gruppe seinen Platz im Gemenge, was uns zum dritten Zoomcall bringt.
»Also, wie wär’s wenn du anfängst … äh. Ja hier. Dangerdaniela. Magst du vielleicht auch deine Kamera aktivieren, damit wir dich sehen können?«, moderierte Karateandrea82 an. Doch das Bild von Dangerdaniela blieb schwarz. Ihre Kamera war an und das Bild war freigegeben, nur konnte man sie eben nicht sehen. »Ja, hallo ihr Lieben. Also wie ihr seht, naja. Da ist ja das Problem, an meiner Geschichte. Es fing alles vor drei Jahren an.«, »Mhm ja, ich verstehe«, bestätigte sie Karateandrea82 in ihrer noch nicht getroffenen Aussage. »Ja nun,«, fuhr Dangerdaniela fort, »ich habe damals so eine Mail bekommen. Sie müssen wissen«, »Ahh ah. Wir duzen uns hier. Ist doch alles ganz locker.« scherzte die Moderatorin. »Hehe«, Dangerdaniela war nicht nach Lachen zu mute, »ja, also ihr müsst wissen, ich ahnte nichts Böses. In der ersten Mail stand sowas wie
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und ich dachte „Oha, ja gut, jetzd!! oder nie«. Machte es also. Und was soll ich sagen. Ich war nach 12 Stunden nicht mehr wiederzukennen.« die Gruppe hörte ihr gebannt zu, teils auch auf der Suche nach dem Ursprung der Stimme in Danielas Kamerarechteck. »An der Stelle, an der zuvor mein Arm war, war, als ich am nächsten Morgen aufwachte, ein Schatten. Also eher eine Art schwarze Fläche. Kein Arm mehr. Also stellte ich mich direkt auf die Waage und tatsächlich: es waren auf einen Schlag 12 Kilo weniger. In dem Moment hatten sie mich. Die Mails kamen immer wieder. Manchmal jede Woche zwei oder sogar drei. Manchmal eine Woche keine. Aber ich konnte mich eigentlich darauf verlassen, dass es nicht länger als sieben Tage und fünfunddreißig Minuten dauerte, bis die nächste kam. Erst war es der Arm, dann die mittleren Zehen. Dann die äußeren und inneren. Da kam schon einiges Zusammen. Sind ja auch viele Zehen. Da war noch alles gut – bis ich die Kontrolle verlor. Und nun seht ihr ja, wohin es mich geführt hat …«, die unsichtbare Eminenz einer Daniela schluchzte in ihr Laptopmikrofon. »Ich wiege mittlerweile -1293 Kilo. Alles, was ich an organischem Körper hatte, hat sich mit den Mails aufgelöst, aber ich konnte einfach nicht aufhören. Ich habe sie immer weiter geöffnet und mir die Erfolgsgeschichten der Abnehmer:innen dieser Programme angeschaut, bis ich schließlich in die Minusmassephase rutschte.« Eine andere Teilnehmerin schrieb im privat Chat, ob sie ihr die Mail weiterleiten könnte. Karateandrea82 sah sich in der Pflicht als nicht gewählte Gruppenleiterin zu beruhigen: »Das ist wirklich sehr mutig, dass du deine Geschichte hier so offen mit uns geteilt hast liebe Dan …«, »Ich bin noch nicht fertig!«, brauste Dangerdaniela auf. Ihr Username begann sich zu erklären. »Als wäre es nicht schlimm genug, dass ich keinen Körper mehr habe, ich sauge auch andere Körper in mich auf. Ich musste raus in die Wüste ziehen, damit ich einen Mindestabstand von 200km zu jeglichem Leben halten kann. Es wurde eine einstweilige Verfügung gegenüber allen Bewohner:innen dieses Planeten gegen mich erwirkt. Wenn ich mich jemandem nähere, wird die Person, oder das Tier, oder die Pflanze, sofort von der Minusmasse absorbiert. Versucht da mal euer Traumgewicht von -2000 Kilo zu erreichen, wenn euer Körper nichts kennt als Abosierben, Absorbieren, Absorbieren!« resignierte Daniela vor ihrem existieren wollenden Körper.
Ein anderer Teilnehmer wirkte mitgenommen von dieser Geschichte. Der Kummer wog schwerer als die Goldketten um seinen Hals. Er fragte vorsichtig: »Bist … bist du fertig? Würde es dich aufmuntern meine Kunde zu vernehmen?«. Sie nickte. Es folgte eine sehr lange Pause. »Na gut, ich fang dann mal an.« setzte BrudaIvan an. »Ich habe, wie es sich bei meiner Vorrednerin begab, eines Tages eine digitale Botschaft vernommen. Jener Klang, er schallt noch immer in meinem Ohr, wie liebreizendes Sirenensurren:
Dieser Mann hat eine neue Sprache gelernt und seine große Liebe getroffen! Machen sie es wie er!!
So gedacht ich bei mir: Gewiss! Ich werd es jenem verliebten Narren gleichtun! So frohlockte ich, bei dem Gedanken, an eine liebreizende Maid an meiner Seit und dem Klang der fremden Zungen in meinem Ohr. Als ich jedoch das nächste Wort sprach, deuchte es mir. Fern war ich von einer vertikal, also nebst meiner Sprach gesprochenen Zunge, in den meinen Breiten und Längengraden. Ward ich von diesem Telegramm der Moderne in die Irre geführt? Welch frevelhafter Tölpel würd solch Missmut über mich bringen? Welch Unglück, welch Leid! Ich ward zurückgeworfen in eine Sprach aus ferner Zeit, nicht fernen Lande. Die Liebe ward mir nie zuteil, dafür Spott, Gelächter und ich wünschte Neid, aber dem war nicht so. Ihr merkt es ja, es geschieht sogleich. Wenn ich zürne, dann macht es sich breit. Der Minnesang ward mir zuteil und wich mir nicht mehr von der Seit. Einst betrieb ich den frommen Sprachgesang, über Handgemenge, Umtrünke und Dirnen. Oh, solch Dirne, wie sie nie ward gesehen, so schön. Dies pernizöse Unheil brach über mich hinein. Konnt nur noch Tadel von meinen Kameraden erheischen. »Alter, verpiss dich du Knecht. Willst du uns flachsen? Ne komm. Bruder, zieh ab. So kannst du nicht talken. Das ist unnormal peinlich« Und so ward ich verschmäht …«. Die Kränkung saß tief. BrudaIvan zog seinen Hoodie über’s Gesicht. Sein Pitbull tauchte im Bild auf, um ihn zu trösten. Ivan kraulte ihn etwas – welch edles Geschöpf. Karateandrea82 wollte ihn beruhigen und versicherte ihm, dass ihm kein erneuter Tadel widerfahren würde. Gekränkt in seinem Rapperego verstand er es als einen erneuten Angriff auf seine Ehre und deaktivierte seinen Kamerazugriff. Die Stimmung war angespannt. Da leuchtete ein neues Quadrat in der überschaubaren Teilnehmer:innenleiste auf. Alex (he/him). Die Kamera ging an, das Bild erschien und seine Stimme rauschte so zart durch die Anwesenden, wie ein Seidenschal, der aus einem offenen Autodach durch den Himmel flanierte. »Oh nein, oh weia. Bin ich zu spät? Das tut mir so Leid! Ich wollte euch nicht unterbrechen. Macht ruhig weiter. Aber ich freue mich sehr endlich hier zu sein.« stammelte er. Die anderen, Karateandrea82 an erster Stelle, hätten nicht glücklicher sein können über das abrupte Ende der Anspannung. »Du kommst genau zur richtigen Zeit! Wie schön, dass du da bist. Wir haben eben schon zwei Geschichten gehört. Möchtest du vielleicht als nächstes deine mit uns teilen?« fragte karateandrea82 hoffnungsvoll. »Oh, äh. Na klar!« verwandelte Alex ihre Hoffnung in pure Erleichterung. Es folgte eine kurze Pause. Alex war selbst durch die Monitore spürbar nervös. Die anderen konnten sich nicht absprechen, doch waren sich einig, dass sie noch nie jemanden so traurigen gesehen hatten. Nicht die offensichtliche Traurigkeit. Nichts was einem direkt auffällt. Eher eine ganz dezente Note, die durchscheint, wenn man die Löcher in der Facette entdeckt. Die kleinen Brüche in der Stimme. Die Zornesfalte, die eher durch das zusammenkneifen und hochziehen der Augenbrauen geprägt wird, wenn man besonders doll versucht den Schmerz der Welt nicht über sein Gesicht fließen zu lassen, weil es schon versalzener ist, als sämtliche McDonalds-Pommes zusammen. Und das Glitzern in den Augen, das einem die zerbrechliche Schönheit einer Teenager Liebe verleiht, die mit ihrer Kraft die ganze Welt um sich herum zum Einsturz bringen kann. All das vereinte Alex in seiner Mimik.
»Also, wie schon gesagt, bin ich Alex. Moment. Hab ich das gesagt? Naja, ich bin Alex. Ich hab euch im Feed einer Freundin gefunden, die immer eher ironisch die therealdonaldtrump Sachen teilt. Nun habe ich eure Geschichten natürlich nicht gehört, oder wie das hier läuft, aber ich kann ja mal erzählen.« er atmete ein. Er atmete aus. »Ich hatte vor einigen Monaten eine Mail in meinem Postfach. Eine Spammail, wie ihr sicher schon vermutet. Ich hatte schon tausende davon bekommen, wie wohl jede:r. Der Betreff war
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Ja gut. Sowas löscht man dann. Aber irgendwie konnte ich nicht. Ich behielt die Mail im Postfach. Ich verschob sie aus dem Spamordner in den normalen Eingang. Wenn eine Mail reinkam sah ich sie immer mal aus dem Blickwinkel, oder im Vorbeiscrollen, auf der Suche nach etwas. Ich kam mir total dumm vor. Wozu behalte ich denn so eine Mail, wenn ich gar keinen … also. Ich behielt sie.« schloss Alex. Die anderen waren verunsichert. Alex Mikrofon wechselte in den Stummmodus. Er schaute auf seine Tastatur, als wüsste er nicht mehr, warum er eigentlich hier war.
Karateandrea82, bürgerlich als Andrea bekannt, übernahm zögerlich: »Nun Alex, bist du fertig?«. Er nickte kaum erkennbar. »… Bist du sicher? Du musst natürlich nicht mehr erzählen, wenn du nicht möchtest, jede Geschichte ist ein wertvoller Beitrag zu unserer Gruppenarbeit und ich finde es toll, dass«, »Ok.« unterbrach Alex sie, vermutlich unwillig, sich weiter passiv zum fortführen der Geschichte nötigen zu lassen. Letztlich war er ja auch irgendwie dazu hergekommen, dachte er sich. Fremde Menschen, denen kann man Dinge erzählen. Die sind nicht gefährlich. Notfalls klappt man den Bildschirm zu und vergisst einfach, was man sich, nein, denen, immer nur denen, eingestanden hat.
»Also ich behielt die Mail. Ach man, keine Ahnung. Vielleicht weil … ich weiß nicht.« Kein Geständnis ist so schwer, wie ein Eingeständnis. »Vielleicht, weil ich wollte, dass ich gemeint sein könnte.« sagte Alex und formte die unzornige Zornesfalte samt überliegender Stirn zu einem Zelt, das ihn kaum vor dem schützen konnte, was über ihm hereinbrach. Der Salzgehalt seiner Augen stieg. »Ich wollte mich einfach angesprochen fühlen. Ich wollte gemeint sein. Oh man, das klingt bestimmt total lächerlich.«. Die anderen, die kollektiv den Kopf leicht geneigt, oder ihn in ihre Hände abgelegt hatten, schüttelten eben diese Köpfe. »Hehe«, wischte sich Alex banal über’s Gesicht. »Naja, wisst ihr, ich glaube, es ging mir nicht um den Penis. Eher darum wofür er steht.«. Er hielt kurz inne. »Also nicht steht-steht! Nein. Nochmal. Was er für mich bedeutet. Ich fand es immer unfair, dass ich keinen bekommen hatte. Alle Jungs hatten einen. Warum ich nicht? Nur, weil ich als Mädchen geboren wurde? Ist doch scheiße!«. Alle pflichteten nickend bei. »Und vermutlich musste ich sie deshalb behalten. Weil sie mich immer wieder konfrontierte. Damit, dass ich vielleicht am meisten Angst davor habe, mir selbst einzugestehen, wer ich bin. Dass ich Angst vor allen Gesprächen danach habe. Dass ich aufhören sollte zu denken, ich könnte es ja einfach aushalten. Und vor allem, dass ich meine Wahrheit nicht länger in einem Spamordner verstecken könnte.«
Die Gruppe war voll da. Dann wagte sich die einzig wirklich anonym teilnehmende Person ohne Usernamen nach vorne: »Und … dann?«. Alex Gesicht klärte auf. Er war nicht wiederzukennen. Es war so, als wäre der Schmerz mit einem Mal aus seinem Gesicht verzogen und hätte keinen Nachverfolgungsauftrag bei der Post hinterlegt. »Und dann habe ich mich einem Haufen Fremder in einer gar nicht so anonymen Spamgruppe geoutet.«
»Ehrlich Leute. Wirklich jeder kann sich dazu schalten. Wir haben alle Kameras an und Mike Müller, Kranichweg 29, 29384 Münstern, du hast deine Adresse in die Usernamenleiste geschrieben. Diese Gruppe ist wirklich nicht besonders anonym.« schob Alex nach. Er würde ab der nächsten Sitzung der neue, erste, Vorsitzende der Gruppe sein