Eine Betrachtung von Balenciaga Crocs Madame unter Ervin Goffman und Karl Marx

Es sind Gegenstände, die uns umgeben, die das geballte Material-, Erfahrungs- und Gebrauchswissen unserer Vergangenheit in sich tragen. Anders gesagt: bis du die Tasse neben dir in der Hand halten konntest, mussten sich einige Leute heißen Kaffee über den Schritt kippen, weil der Henkel nicht hielt, was er versprach: deinen Kaffee. Und wir lieben viele dieser optimierten Dinge. Häufig übersteigt der empfundene symbolische und emotionale Wert den tatsächlichen Geldwert. Denken wir an Motorrad-Fahrer:innen oder Instrument-Virtuos:innen, können Objekte als Körperverlängerung empfunden werden. Vor allem aber geben uns Gegenstände im alltäglichen Leben Aufschluss darüber mit was und wem wir es zu tun haben. Eine Frau in einem Gewand irgendwo zwischen Frodo Baggins-haftem Umhang und Cyberpunk, die das kommunistische Manifest liest? Offensichtlich Grimes, Ex-Partnerin von Tesla-Gründer Elon Musk. Anhand von Objekten schließen wir auf Status, Statusbedürfnis, sozioökonomische Situierung und persönliches ästhetisches Empfinden – und lassen uns nur zu gerne von ihnen täuschen. Wie kommt es also, dass wir trotz dieser Täuschungsmanöver eine tiefe Verbundenheit und Abhängigkeit zu Objekten aufbauen? Um diese Frage ansatzweise zu klären, werde ich mich auf die Theorien von Ervin Goffman und Karl Marx beziehen, diese und ihre Begrifflichkeiten komprimiert erörtern und exemplarisch ein zeitgenössisches Prestige-Objekt daran messen: den Balenciaga Croc Madame.

Goffman
Treffen wir auf andere Menschen wollen wir schnellstmöglich Informationen über sie sammeln. Was wir heutzutage durch intensive Online-Recherche aka strafrechtlich irrelevantes Stalking bereits vorab initiieren können, spielt sich in Goffmans Ansatz von 1956 noch im direkten Miteinander ab. Finanzielle Situierung, sozialer Status, Interessensschwerpunkte und die Glaubwürdigkeit, mit der vorherige Positionen vermittelt wurden, werden direkt indirekt abgefragt, um das eigene Verhalten danach auszurichten. Indirekt, weil die Abfrage nicht etwa durch einen Fragenkatalog erfolgt, sondern eher einer Rezension gleicht, denn Goffmans Sozialanalyse spielt sich auf einer Theaterbühne ab. Dazu nutzt er alle Mittel und Begriffe einer klassischen Aufführung. Darsteller:innen, Rollen, Ensembles, Requisiten, Bühnenbilder, Publikum und Regisseur:innen zieht er für seine Konzeption einer Selbst-Konstitution heran. Eine Unterscheidung trifft er jedoch: im echten Schauspiel trifft ein verkleideter Charakter auf einen anderen, während ihre Darbietung von einem Publikum rezipiert wird. Drei Parteien also, die vom temporär gestellten Spiel wissen. In Goffmans Aufstellung der sozialen Realität geht die Rolle des Publikums in die sich begegnenden Charaktere über, die gleichzeitig ihre Rollen aufrechterhalten und dabei die ihres Gegenübers prüfen. Eine Rolle kann durch ein entsprechendes Bühnenbild mit den richtigen Möbelstücken, Deko-Elementen und Requisiten aufrechterhalten werden – sie bilden die Kulisse für das soziale Schauspiel. Teilweise ist es sogar zwingend für eine bestimmte Rolle, da diese an das entsprechende Bühnenbild gebunden ist und ausschließlich dort stattfindet, wie Rapper in deiner Mutter und deine Mutter Witze in Rappern. Getrennt voneinander zu betrachten ist das was sich im Hintergrund abspielt und das vordergründige Schauspiel mit samt seiner Requisiten. Nicht nur einzelne Darsteller:innen können dort aufeinander treffen, sondern auch Ensembles. Diese sind in Goffmans Szenario Gruppen von Individuen, die gemeinsam ihre Rollen aufbauen und legitimieren. Für das perfekte Schauspiel sind folgende Bedingungen ideal:
1. Es gibt ein Ensemble, das begleitet durch Requisiten, ihre einander stützenden Rollen glaubwürdig ausfüllen kann. Beispielsweise die russische Regierung unter Putin in Begleitung von atomaren Waffen.
2. Es gibt ein Publikum, das die Darbietung interpretiert und die gespielten Rollen abnimmt. Beispielsweise die NATO unter Putins Drohgebärden.
Neben einem rollentypischen Erscheinen und Verhalten können, wie man sieht, Requisiten maßgeblich zur überzeugenden Darbietung beitragen. Sowohl aufrichtige Darsteller:innen, also Personen, die sich ihr eigenes Schauspiel glauben, als auch zynische Darsteller:innen, Personen, die dies nicht tun bedienen sich solcher Requisiten, um ihre Rollen zu untermauern. Sie ermöglichen uns eine klare Zuordnung zu einem sozialen Milieu, geben uns die Freiheit unsere Körper ganz nach persönlichem Gusto zu gestalten und uns damit sowohl abzugrenzen als auch einzureihen. Unsere Individualität wird zum eigentlichen Gut – doch die muss uns erst einmal jemand abkaufen. Will man also die Fußstapfen einer aussagekräftige Rolle ausfüllen, sollte man sich das angemessene Schuhwerk besorgen – zum Beispiel die Balenciaga Crocs Madame Pantoletten.
Die aus 100% EVA (Ethylenvinylacetat) gegossenen Stilettos bestechen durch formvollendete Klobigkeit, eine zweckentfremdente Form, gegenüber dem original Croc und einem geprägten Balenciaga-Logo auf dem Riemen. Entscheidend für die Funktion als Requisite nach Goffman sind dabei sowohl Form als auch Logo. Erstere gibt Informationen darüber was für einem sozialen Milieu sich das Gegenüber zuordnen könnte. In Frage kämen beispielweise fashionaffine Werber:innen, exzentrische Yuppies oder masochistische Gärtner:innen. Wenn eine dieser Rollen auch dem vorher vermittelten Eindruck der Darsteller:in entspricht, bestätigen die Balenciaga Crocs diesen. Ebenso können sie einem zynischen Charakter dazu dienen den Wandel zum aufrichtigen zu vollziehen. Indem er fortwährend Requisiten ähnlicher Ästhetik wählt, kann er sich die selbstgewählte Rolle des:der masochistischen Gärtner:in besser glauben und letztlich vollkommen authentisch verkörpern. Die Pantoletten mögen nicht die Knöchelstabilität, aber dafür die aufgebaute Identität des:der Darsteller:in stützen und werden dadurch zu einer Identitätsprothese. Der Nutzen eines solchen Schuhwerks scheint also auf den ersten Blick gering, kann aber maßgeblich zum Erhalt eines Schauspiels beitragen. Eine andere Erklärung für das Phänomen „Balenciaga Croc“ bietet die Theorie von Karl Marx.
Marx
Für eine Betrachtung des Balenciaga Crocs Madame unter Marx, müssen wir zunächst seine Theorie beleuchten. In seinem Hauptwerk „Das Kapital“, welches er als „Kritik der politischen Ökonomie“ verfasste, finden wir seine Kernthesen. Essenziell ist dabei seine Unterteilung der Gesellschaft in Klassen. Das ökonomisch schwache Proletariat, welches die Arbeiter:innen stellt, steht der wohlhabenden Bourgeoisie entgegen, welche wiederum Kapitalist:innen hervorbringt. Die Kapitalist:innen besitzen Produktionsmittel und Geld, welche sie einsetzen, um mehr Geld zu akkumulieren. Dies geschieht durch die von Marx dazu erklärte Grundlage des kapitalistischen Systems, Ware, und den durch die Arbeit des Proletariats erzeugten Mehrwert. Die Arbeiter:innen besitzen keine Produktionsmittel und sind gezwungen ihre Arbeitskraft als Ware an die Kapitalist:innen zu verkaufen, was sie im Arbeitsprozess auch ihres Arbeitsergebnisses, der Ware, und dem daraus folgenden Mehrwert beraubt. Ihre Lohnarbeit gesteht ihnen lediglich das Existenzminimum zu, um sie somit in der Abhängigkeit zum Betrieb zu halten. Eine Theorie, die die meisten von uns jeden Tag in der Praxis erleben. Der durch ausbeuterische Verhältnisse akkumulierte Gewinn wird eingesetzt, um mehr Waren zu produzieren, welchen wiederum verschiedene Warenwerte innewohnen: der Gebrauchs- und Tauschwert. Unter dem Gebrauchswert wird die Nützlichkeit der Ware verstanden, also welchen Wert das Objekt für einen hat. Im Fall von Hunger wäre beispielsweise ein Burger von hohem Gebrauchswert. Würde man denselben Burger dagegen jemandem reichen und anbieten ihn gegen deren neuen MacBook zu tauschen, müsste das Gegenüber schon eine lebensbedrohliche Stufe von Hunger erreicht haben, um dem Tausch zuzustimmen. Der Tauschwert eines Burgers ist in der Regel weit geringer als der eines in komplizierten, arbeitsaufwändigen Schritten und mit teureren Ressourcen gefertigten MacBooks. Was nämlich den ökonomischen Wert einer Ware bestimmt, ist die darin „geronnene“ Arbeitszeit. Diese Arbeitszeit ist es auch, die Waren vergleichbar macht. Wie kann man nun also mit diesem Wissen den Wert zweier Schuhe vergleichen, die abgesehen von einem Stielabsatz produktionsgleich sind, sich aber im Preis um 450,01€ unterscheiden? Während ein original Croc für 44,99€ gehandelt wird, rangiert ein Balenciaga Crocs bei 495€. Wir könnten nach Marx vermuten, dass es sich dabei um ein höheres Maß geronnener Arbeitszeit handelt. Wenn wir jedoch betrachten, dass beide Schuhe in vergleichbaren Fabriken in China gefertigt werden und aus dem gleichen Material bestehen, das verstärkt eine maschinelle statt menschliche Verarbeitung bedarf, kann das nicht die Lösung sein. Bei einem Preis von 1,7€ pro Kilogramm EVA und einem durchschnittlichen Schuhpaar-Gewicht von 764 Gramm, kämen wir auf einen Materialwert von 1,298€. Wie erklärt sich also ein Preis von 495€ für ein Paar Balenciaga Crocs? Nach Marx könnten wir auf eine Mischung aus kapitalistischem Mehrwertstreben und seiner „Fetischisierung der Ware“ schließen. Der Kapitalist, in diesem Beispiel stellvertretend Balenciaga als Marke, möchte einen Mehrwert erzielen. Dies tun sie durch die Verlagerung der Produktion aus Italien in Länder, die für ihre günstige Arbeitskraft bekannt sind. Seitens Balenciaga gibt keine Nachweise dafür, dass faire Löhne made in China gezahlt würden – nicht einmal welche, die den Lebensunterhalt der Arbeiter:innen decken könnten. Doch durch die Entfremdung des Menschen von der in Produkten geronnenen Arbeitszeit, wird die Ware selbst zum verehrungswürdigen Objekt. Das kommt den Kapitalist:innen entgegen. Auf diesem Weg kann der plumpe Croc, durch ein ebenso plump angebrachtes Logo, mit einer Aura der Begehrlichkeit ausgestattet werden und der Preis wirkt legitimiert.
Wir resümieren
Goffmans Inszenierung des Selbst bietet die ideale Ausgangslage für die Fetischisierung der Waren und daraus resultierenden maximalen Kapitalakkumulation nach Marx. Wenn ein Stück in Form gegossenes Plastik für 495€ gehandelt werden kann und nach wenigen Wochen ausverkauft ist, dann ist dies in keinster Weise mit einem Gebrauchswert zu erklären – zumindest nicht dem ursprünglichen eines Schuhs. Es ist nicht der Schuh, sondern die damit einhergehende Identität, die wir kaufen.
Literatur
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